Wie ein Schmetterling die Freude zurückbrachte
Einst lebten an der Grenze zwischen Savanne und Steppe das Volk der Giraffen und das Volk der Wölfe.
Vor undenklichen Zeiten hatten sie friedlich beisammen gelebt. Das einzige Wasserloch weit und breit war ein beliebter Treffpunkt zwischen beiden Völkern gewesen, an dem sie miteinander sprachen, lachten, tanzten und sangen.
Doch irgendwann – niemand konnte mehr sagen, warum
eigentlich – waren sich Giraffen und Wölfe Feind geworden. Sie mieden
sich, wo sie nur konnten.
Wo sie es nicht konnten, war das Wasserloch.
Nur: Was früher ein lebendiges und fröhliches
Beisammensein gewesen war, wurde nun zu einem Belagern und manchmal auch
zu mehr. Es kam zu Streitereien, ja zu Raufereien und gar Verletzte
hatte es schon auf beiden Seiten gegeben.
Die Ältesten der Völker waren über diesen Zustand
entsetzt. Wie sehr sehnten sie sich nach den friedlichen Tagen ihrer
Väter – doch wie sollten sie je wieder dorthin gelangen?
Niemand von ihnen wagte es, einen Vertreter zum
anderen Volk zu entsenden. Weniger aus Furcht, diesem könnte etwas
zustoßen, sondern vielmehr aus Angst, es könnte als Zeichen der Schwäche
ausgelegt werden. Und keiner wollte sein Gesicht verlieren: Was hätte
das für ein Getratsche im eigenen und für Gelegenheit zu Spott beim
anderen Volk gegeben!
Eines Tages nun kam ein Schmetterling des Wegs geflogen.
Da er müde war und auch durstig, ließ er sich am Wasserloch nieder.
Kaum hatte er seine müden Glieder ausgestreckt
und sich am kühlen Naß erfrischt, da kamen von verschiedenen Seiten
Giraffen und Wölfe angetrabt.
“Oh,” dachte der Schmetterling, “ich kriege Gesellschaft, wie schön!”
Als die Giraffen und Wölfe am Wasserloch angekommen waren, sahen sie den fremden Gast und hießen ihn willkommen.
Dies war das erste Mal seit langer Zeit, daß hier an diesem Ort freundliche Worte gewechselt wurden.
Das ließ die Führer der Völker aufhorchen:
“Moment mal,” werden sie gedacht haben, “jetzt und hier haben wir keinen
Groll im Herzen. Womöglich ist das die Chance, mit den anderen ins
Gespräch zu kommen!”
Und siehe da, aus dem Volk der Giraffen und aus
dem Volk der Wölfe trat je ein Mitglied hervor – die Tapfersten, die
auch schon bei den Raufereien mitgemacht hatten – und ging auf den
anderen zu.
Sprach der Wolf: “Uns nervt es schon lange, was hier
abgeht. Wie gerne hätten wir den Frieden, wie ihn die alten Lieder
besingen, zwischen euch und uns. Doch wissen wir nicht, wie wir es
anstellen könnten, mit euch ins Gespräch zu kommen.”
“Nun, das ist ganz einfach”, sagte die Giraffe,
“hört auf damit, abends um unser Lagerfeuer zu schleichen, das ist uns
nicht geheuer!”
“Na, was fällt euch denn ein, ihr Langhälse, wollt
ihr uns etwa Vorschriften machen?”, fauchte der Wolf, “Wenn ihr eure
Nasen nicht immer so hoch tragen würdet, dann hätten wir keine
Probleme!”
“Oh ha!”, dachte der Schmetterling, “Ich glaube,
hier sprechen zwei miteinander, die es noch nicht so recht verstehen,
auf die Musik hinter den Worten zu lauschen. Mal sehen, vielleicht kann
ich ihnen etwas schenken!”
Und noch während die Giraffe ihrerseits auf den
Wolf reagierte – ihre Worte will ich an dieser Stelle aus Gründen der
Achtsamkeit lieber verschweigen – flog er zum Wolf, setzte sich ihm auf
die Schulter, ganz nahe beim Ohr, und flüsterte:
“Hallo Wolf, mö-“
“Verdammt, hast Du mich erschreckt! Wer bis Du?”
“Ich möchte Dir ein Geschenk machen.”
“Ein Geschenk? Jetzt? Was soll ‘n das sein?”
“Ich würde Dir gerne ein Lied singen, das davon handelt, wie ich die Giraffe verstanden habe.”
“Wie du die Giraffe verstanden hast? Ja glaubst
Du denn, ich habe Tomaten in den Ohren? Die wollen uns in die Pfanne
hauen, das ist doch sonnenklar!”
“Das klingt so, als ob Du sauer wärst, weil Du Anerkennung für Deine Art des miteinander Redens brauchst.”
“Na, was denkst denn Du!?”
“Ich bin überzeugt davon, daß Du alles, was Du
tust, daran mißt, ob es Dir Freude macht. Und eine solche Einstellung
schätze ich sehr, denn ich liebe es, das Leben zu verschönern.”
“Aha. Und deswegen möchtest Du mir wohl auch dieses Lied singen, stimmt’s?”
“Oh, ich freue mich, daß Du das verstanden hast!”
“Mmh, na gut, ich laß’ es auf einen Versuch ankommen. Leg’ los!”
Kaum hatte der Wolf die letzten Worte
gesprochen, da begann der Schmetterling auch schon zu singen. Und – wow!
– das war eine Melodie! So etwas hatte der Wolf noch nicht gehört. Ihm
wurde ganz anders zumute, auf eine Weise, die er bisher noch nie erlebt
hatte.
Anfangs glaubte er ja, er würde krank – so
friedlich und glücklich fühlte er sich auf einmal. Dann merkte er, daß
das, was er bisher als Angriff der Giraffe verstanden hatte, wie Worte
des Herzens klang.
Er faßte allen Mut, den er besaß, zusammen und
sprach: “Du, Giraffe, verstehe ich Dich richtig, willst Du mir sagen,
daß ihr Angst empfindet, wenn wir uns abends in der Nähe eures
Lagerfeuers aufhalten, weil ihr Sicherheit braucht?”
“Na Gott sei Dank hast Du das mal kapiert”, sagte
die Giraffe, “ich glaubte schon, Du hättest Karotten in den Ohren. Was
soll das eigentlich, warum macht ihr das?”
“Das habe ich Dir doch eben schon gesagt. Wir machen das, weil ihr eure Nasen – “
“- Moment, Moment”, flüsterte der
Schmetterling, “so hast Du es schon einmal versucht, der Giraffe zu
erklären. Ich fürchte, sie wird es auch beim zweiten Mal anders
verstehen, als Du es Dir wünschst.”
“Na, was soll ich denn machen – so red’ ich nun mal! Könntest Du nicht …?”
“Was?”
“Ähm, das ist mir jetzt ein bisschen peinlich,
aber, äh, könntest Du ihr nicht sagen, wie ich es meine, so, daß sie es
versteht?”
“Möchtest Du, daß ich zu ihr rüberfliege und ihr Dein Lied vorsinge?”
“Ja, bitte!”
Und schon schwebte der Schmetterling hinüber zur Giraffe und setzte sich ihr auf einen Höcker, ganz nahe beim Ohr.
“Du, Giraffe?”
“Nanu, wer bist denn Du?”
“Ich möchte Dir gerne ein Lied singen.”
“Ein Lied? Spinnst Du? Siehst Du denn nicht, daß ich hier aufpassen muß?”
“Hast Du Angst, in einen Schlamassel zu geraten, wenn Du nicht genau Acht gibst auf das, was der Wolf zu Dir sagt?”
“Ja, allerdings! Ich glaube, die haben’s auf uns abgesehen!”
“Das glaube ich auch – nur in einem anderen Sinne als Du.”
“He?”
“Ich habe den Eindruck, der Wolf möchte sich mit Dir verständigen. Und genau davon soll auch mein Lied handeln.”
“Verständigen? Lied? Puh, ich bin jetzt
ziemlich durcheinander! Bitte, vielleicht hilft mir Dein Lied ja, wieder
zu mir zu kommen.”
Und der Schmetterling sang.
Die Melodie war einfach, klar und rein und sie
berührte die Giraffe tief in ihrem Innersten, an einem Ort, den sie mit
dem Licht ihres Bewußtseins schon lange nicht mehr aufgesucht hatte.
Und nun verstand sie.
Ganz aufgeregt, in einer Mischung aus Freude
und Traurigkeit fragte sie: “Wolf, verstehe ich Dich richtig: Seid ihr
traurig darüber, in der Nacht ohne die Wärme eines Feuers zu leben, weil
ihr Gemeinschaft braucht? Und sagst Du mir, wie wichtig Dir
Gleichwertigkeit und Achtung sind?”
Als der Wolf das vernahm, hüpfte sein Herz vor
Freude. Wie sehr, wie lange schon hatte er sich danach gesehnt, auf
diese Weise gehört und verstanden zu werden!
Ihn, seine Artgenossen und ebenso die Giraffen
ergriff ein stiller süßer Schmerz. Ihre Gesichter entspannten sich und
ihre Augen begannen hell zu leuchten. Und da war noch mehr: Wer genau
hinschaute – und der Schmetterling war ein guter Beobachter – , der sah
silberne Tränen in ihren Augen schimmern.
Für eine ganze Weile war nichts weiter zu hören als Stille.
Danach brauchte es weniger als zwanzig Minuten,
bis Giraffen und Wölfe eine Idee entwickelt hatten, von der sie sich
alle Frieden und Freude versprachen.
Dies war der Beginn einer neuen Zeit.
Und sie fing damit an, daß sie gemeinsam feierten.
Sie erinnerten sich all’ der Lieder, die sie zu
früheren Zeiten gesungen hatten, und hier und heute erklangen sie
wieder und wurden wieder wahr.
Das war ein Singen, ein Tanzen und ein Lachen!
Und manchmal auch ein Weinen. Denn wer etwas so
Schönes erlebt und beim Erleben gewahr wird, wie schmerzlich lange er
dieses Schöne vermißt hat, der weint. Vor Trauer und vor Freude.
Und an diesem Abend, in der Zeit, als farbenfrohe Raketen den Himmel erleuchteten, wurde ein neues Lied geboren.
Dieses Lied besang den heutigen Tag, und es
begann damit, wie sich ein Schmetterling, müde und durstig, am
Wasserloch niederließ.
Und damit es einen Namen bekommen konnte,
fragten Giraffe und Wolf am Lagerfeuer den Schmetterling: “Sag mal, wer
bist Du eigentlich und wie heißt Du?”
“Ich bin die, die ich bin, und so heiße ich auch.”
“…?”
“Worte und Namen legen uns fest und nehmen uns
etwas von dem, was wir tatsächlich sind. Wenn ihr eurem Lied einen Namen
geben wollt, so bitte ich euch, nennt es: Die Geschichte von Girolfe.”